Die beiden Studentinnen Vanessa Kammerer (links) und Anne-Felicitas Knieps (rechts) – hier im Labor mit Professorin Dr. Anja Kröger-Brinkmann (Mitte) – bewerten die unbegrenzten Prüfungsversuche als sehr positiv und entlastend für das Studium. Foto: TH OWL

Die Technische Hochschule Ostwestfalen-Lippe (TH OWL) geht neue Wege in der akademischen Lehre: Der Fachbereich Life Science Technologies am Standort Lemgo bietet ab sofort eine unbegrenzte Anzahl an Prüfungsversuchen für seine Studierenden an. Dieses Pilotprojekt, das zunächst für zwei Jahre angesetzt ist, macht den Fachbereich zum Vorreiter innerhalb der Hochschule und könnte wegweisend für andere Studiengänge sein.

 

Professorin Dr. Anja Kröger-Brinkmann, die im Fachbereich Physikalische Chemie lehrt und Vorsitzende des Prüfungsausschusses ist, hat die Einführung der unbegrenzten Prüfungsversuche maßgeblich vorangetrieben. „Wir haben in den vergangenen Jahren festgestellt, dass die limitierte Anzahl an Prüfungen auf maximal drei Versuche bei den Studierenden immer mehr zu einem Hemmnis geführt hat“, erklärt Kröger-Brinkmann. „Wenn ich auch im dritten Versuch an einer Prüfung scheitere, werde ich exmatrikuliert und kann bundesweit in keinem artverwandten Studiengang mehr weiterstudieren. Diese Regelung verursacht großen Druck bei den Studierenden.“

 

Die neue Prüfungsordnung, die für alle Bachelorstudiengänge des Fachbereichs Life Science Technologies gilt, wurde nach intensiven Überlegungen und Diskussionen erarbeitet und verabschiedet. Alle bereits eingeschriebenen Studierenden hatten die Möglichkeit, in die neue Prüfungsordnung zu wechseln, während Erstsemesterstudierende direkt nach dieser neuen Regelung studieren.

 

„Wir hoffen, durch dieses Angebot die Studienabbruchquote zu minimieren und das Studium damit attraktiver für junge Menschen zu gestalten. Denn in Anbetracht des Fachkräftemangels haben wir als Industriestandort großen Bedarf an Fachkräften, insbesondere im sogenannten MINT-Bereich, also der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik“, betont Kröger-Brinkmann.

 

Chancengleichheit in MINT-Fächern fördern

Unbegrenzte Prüfungsversuche tragen auch zu einer Verbesserung der Chancengleichheit bei, indem sie die Hürde für einen erfolgreichen Abschluss senken. Studierende aus benachteiligten sozialen und finanziellen Verhältnissen haben zum Beispiel oft weniger Ressourcen zur Verfügung, um sich intensiv auf Prüfungen vorzubereiten. So beruhte die Entscheidung für die unbegrenzten Prüfungsversuche auch auf einer strategischen Maßnahme angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels in den MINT-Berufen.

 

Flexibilität und individuelle Lernwege

Professorin Kröger-Brinkmann sieht in der neuen Regelung auch eine große Chance, die Eigenverantwortung der Studierenden zu stärken und individuelle Lernwege zu fördern. „Wir haben keine Bedenken, dass unsere Studierenden die Prüfungsversuche bis ins Unermessliche ausreizen werden. Wir setzen viel eher auf den Lerneffekt und die Eigenmotivation, nachdem man vielleicht schon eine negative Erfahrung gemacht hat. Denn spätestens beim zweiten oder dritten Mal setzt ein Lerneffekt ein, indem mir als Studierender bewusst wird, wo ich mehr lernen oder den Fokus anders setzen muss.“

 

Zusätzlich werden in allen drei Prüfungszeiträumen, die im Fachbereich über das Jahr verteilt stattfinden, alle Prüfungen angeboten, unabhängig davon, in welchem Semester die dazugehörige Vorlesung stattfand. Dies erhöht die Flexibilität und ermöglicht den Studierenden, ihr Studium besser an ihre individuellen Bedürfnisse und Lebensumstände anzupassen.

 

Evaluierung und Zukunftsperspektiven

Das Pilotprojekt läuft zunächst über zwei Jahre, in denen die Erfahrungen und Auswirkungen der neuen Regelung sorgfältig evaluiert werden sollen. „Nach Ablauf dieser zwei Jahre werden wir anhand der gesammelten Erfahrungen abwägen, wie es weitergehen soll“, erklärt Kröger-Brinkmann. Wichtig sei dabei auch, dass alle Studierenden, die in dieser neuen Prüfungsordnung eingeschrieben sind, das Studium unter diesen Regelungen – unabhängig von der Dauer des Studiums – mit unbegrenzten Prüfungsversuchen abschließen können, auch wenn das Pilotprojekt nach zwei Jahren nicht fortgeführt werden sollte.

 

Erste positive Resonanz

Die Reaktionen der Studierenden auf die neue Prüfungsordnung waren durchweg positiv. Anne-Felicitas Knieps, eine Studentin des Fachbereichs, äußert sich begeistert: „Ich finde es super, dass ich nun unbegrenzte Prüfungsversuche in Anspruch nehmen kann. Für mich bedeutet das weniger Stress. Außerdem habe ich die Möglichkeit, eine Prüfung erstmal zu ‚testen‘, um zu sehen, wie es läuft. Mal durchzufallen ist dann weniger tragisch.“ Auch Vanessa Kammerer, die zweite Vorsitzende der Studierendenfachschaft begrüßt die Neuerung: „Die unbegrenzten Prüfungsversuche sind eine gute Sache. Es nimmt einem einfach viel Druck. Ich selbst war schon mal im zweiten Versuch und hatte Angst, auch in den dritten zu müssen. Jetzt kann ich viel entspannter und ruhiger in die Prüfungen gehen.“

 

Ein Modell für die Zukunft?

Die neue Prüfungsordnung könnte auch als Modell für andere Fachbereiche und Hochschulen dienen, denn sie bietet einige Vorteile, die insbesondere den individuellen Lernbedürfnissen und der psychischen Gesundheit der Studierenden zugutekommen. Letztlich sollten Hochschulen den Mut haben, innovative und studierendenfreundliche Ansätze zu verfolgen. Dieses Pilotprojekt mit unbegrenzten Prüfungsversuchen könnte ein solcher Ansatz sein, der den Bildungsweg flexibler, fairer und menschlicher gestaltet.

 

Pressemeldung: TH OWL