Alte Zeichnungen, wohl von Tintoretto, Veronese und anderen Berühmtheiten, Herkunft unbekannt: Mitarbeiterinnen der Lippischen Landesbibliothek fanden die rätselhafte Mappe mit 28 Blättern aus dem 16. bis 18. Jahrhundert bei der Revision der Graphischen Sammlung. Zum Sammlungsprofil passen die Stücke nicht – wie kamen sie in die Bibliothek?
Eine erste Recherche im Bibliotheksarchiv brachte neue Erkenntnisse: Die Blätter sind während oder kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs ins Haus gelangt. Sie gehören der Bibliothek nicht. Die britische Militärregierung entschied aber seinerzeit, dass sie dort am besten aufgehoben sind, bis rechtmäßige Eigentümer:innen sich gemeldet haben oder ermittelt sind. Dafür standen bereits 1945/46 die Karten schlecht, und auch bis heute ist über die Eigentümer:innen nichts bekannt.
Das will das am 1. Juli 2023 begonnene Forschungsprojekt ändern. Es trägt den sperrigen Titel „Ermittlung der Provenienz von 28 Handzeichnungen des 16. bis 18. Jahrhunderts unter Verdacht auf NS-verfolgungsbedingten Entzug in der Lippischen Landesbibliothek“. Es wird finanziell gefördert vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste und begleitet von der Koordinationsstelle für Provenienzforschung in Nordrhein-Westfalen (KPF.NRW). Das Forschungsvorhaben wird zudem von der Französischen Botschaft (Außenstelle Berlin) in enger Zusammenarbeit mit Kolleg:innen aus Französischen Archiven unterstützt.
Aber warum ein NS-Raubgutverdacht? Die Zeichnungen kamen in der Ära des Bibliotheksdirektors Eduard Wiegand ins Haus, der der Landesbibliothek in der Zeit von 1933 bis 1945 vorstand. Wiegand war ein überzeugter Nationalsozialist. Er hatte keine Hemmungen, die Bibliothek an beispielsweise polizeilichen Beschlagnahmungen zu bereichern. Die Aufzeichnungen des Bibliothekars Alfred Bergmann, der die Landesbibliothek nach Wiegands Absetzung 1945 kommissarisch leitete, belegen, dass Bergmann von einer ‚dubiosen‘ Herkunft der Bilder ausging. Er versuchte nach 1945, die Bedeutung und die Herkunft der Zeichnungen zu ermitteln – ohne Erfolg. Die Umstände und die Erinnerungen Bergmanns legen den starken Verdacht nahe, dass die Kunstwerke unrechtmäßig entzogen worden sind.
In den nächsten sechs Monaten gehen die Forscherinnen spannenden Fragen nach: Wie sind die Zeichnungen in die Bibliothek gekommen? Kann man mehr über Eduard Wiegand und seine damaligen Netzwerke erfahren? Und: Welche Spuren lassen sich auf den Zeichnungen selbst finden? Schon Alfred Bergmann befragte 1945 lokale „Experten“ wie etwa den in Detmold-Hiddesen ansässigen Antiquar Dr. Hans Krüger, den Oberbaurat Karl Hans Vollpracht und den Oberschulrat Dr. Kühn.
Aus diesen Gesprächen schloss er, dass die Blätter aus französischen Wohnungen, einem Museum oder einer Privatsammlung gestohlen worden seien könnten. Auch die Niederlande werden als möglicher Herkunftsort genannt. Die Spuren führen über Lippe und Westfalen hinaus, weshalb neben dem Besuch von regionalen Archiven auch Recherchen in französischen oder niederländischen Archiven geplant sind.
Und was macht man mit den hoffentlich zu erlangenden neuen Erkenntnissen? Darauf hat Jörg Düning-Gast, Verbandsvorsteher des Landesverbandes Lippe, eine eindeutige Antwort: „Es geht nicht nur darum, die Wege zu beleuchten, wie die Stücke in die Landesbibliothek gekommen sind, oder historische Zusammenhänge zu klären. Sollte sich der Verdacht auf NS-Raubgut bestätigen, ist es vielleicht auch möglich, die rechtmäßigen Eigentümer:innen oder deren Rechtsnachfolger:innen zu ermitteln. Dann wäre es auch das Ziel, die Zeichnungen zurückzugeben.“
Pressemeldung und Foto: Lippische Landesbibliothek